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So könnte ein Gespräch mit dem Schriftsteller Franz Kafka ausgesehen haben.

Andrea: Guten Tag, Herr Kafka. Ich finde es gerade unglaublich irre, mit Ihnen einen Kaffee trinken und plauschen zu können. Überhaupt – Ich hätte Sie gerne als besten Kumpel.

Kafka: (lacht heftig) Nun ja – Ich bin Singlemann und nach 3 gescheiterten Verlobungen steht immer noch eine Hochzeit aus. Entschuldigen Sie, aber Freunde habe ich sehr viele (lacht unbändig).

Andrea: Oh ich weiß, sie hatten einen großen Freundeskreis – und sie waren oft verliebt, am heftigsten in die Journalisten Milena Jesenka, am glücklichsten in Dora Diamant. Außerdem wollten Sie nie heiraten, weil Sie die Ehe mit einer Existenz als Schriftsteller für nicht vereinbar hielten.

Mit diesem Humor und ansteckendem Lachen hab ich aber nun wirklich nicht gerechnet, wobei ich natürlich das Groteske Ihrer Texte erkenne. Sie überraschen mich! Ich meine – von Ihrem Namen wurde das Adjektiv „kafkaesk“ abgeleitet. Und wir wissen alle, dass das sowas wie „unergründlich bedrohlich“ bedeutet. Also als Düstermann kommen Sie nicht wirklich daher. 

Kafka: Ja, der lachende Kafka ist bei den meisten noch zu entdecken. Ich lachte gerne, wenn ich mit meinen Künstlerfreunden in den Prager Salons unterwegs war. Ich lache auch gerne, wenn ich Mächtige sprechen höre – das ist dann aber höhnisch. Manchmal empfinde ich Lachen auch als Befreiungsschlag.

Andrea: Ihre detailfreudige Beschreibung Ihres Lachens erinnert mich gerade an Freuds Witzanalyse. Sie waren ja auch ein großer Fan von Sigmund Freud, mit dem sie zeitgleich lebten. Aber dazu später.

Kafka: Ja, ich hätte vielleicht auch mal auf seine Couch gemusst.

Andrea: Ich denke, dass das Schreiben die bessere Therapie für Sie war. Sie hatten es nicht leicht in Ihrem Leben und befanden sich in einem ständigen Grübelgefängnis. Man merkt in Ihren literarischen Werken, dass Sie Ihr Innerstes nach außen kehrten.

Kafka: Das Schreiben war in der Tat eine Art Gebet für mich. Ich habe täglich geschrieben – meine ganze Energie floss ins Schreiben.

Andrea: Glücklicherweise. Wir wären sonst um ein großes Genie ärmer. Ich freue mich, dass wir uns nun im 21. Jahrhundert treffen, damit Sie die Bewunderung, die viele für Sie haben, noch erfahren. Zu Ihren Lebzeiten waren Sie ja leider nur in eingeweihten Kreisen literarisch anerkannt und dank der unermüdlichen Arbeit Ihres besten Kumpels Max Brod, der Ihren Nachlass herausgab, sind Sie mit einer der einflussreichsten Schriftstellern der Welt. Schade, dass sie damals nur 350 Seiten Ihrer 3400 Seiten Literatur für veröffentlichungswürdig hielten.

Kafka: Selbstkritisch bin ich immer noch. Und ja – Ich habe meinen Bekanntheitsgrad soeben bemerkt, als ich durch die Stadt lief.

Andrea: Und? Gefällt er Ihnen?

Kafka: Nein! Ich mag mich nicht besonders. Schau mich an, ich bin sehr mager, bin der magerste Mensch, den ich kenne. Dazu bin ich sehr blass und ängstlich. Ich bin Hypochonder. Sogar in meinen unzähligen Sanatorienaufenthalten war mir keiner begegnet, der so mager war wie ich. Die Menschen haben mich früher oft komisch angeschaut und ich wurde nicht selten gehänselt wegen meines Äußeren. Die heutige Anerkennung tut dennoch meinem Selbstwertgefühl, von dem ich nie viel hatte, gut.

Andrea: Und wie sieht’s mit dem gegenwärtigen Zeitalter aus? Sie haben genau ein Jahrhundert früher gelebt. Fühlen Sie sich denn wohl im Jahr 2016? Bereuen Sie es, um die Jahrhundertwende gelebt zu haben?

Kafka: Ich war ein moderner Mensch, du Andrea zählst zu den postmodernen. Ich habe damals als Seismograf unter Presslufthämmern gelebt. Die Epoche der Moderne um 1900, angetreten mit dem Versprechen, den Menschen aus den Fesseln der Tradition, des Aberglaubens, der Tyrannei zu holen, ist ein Zeitalter der Entfremdung geworden.

Andrea: Stimmt! Es gibt so vieles, was versteckt auf uns einwirkt.

Kafka: Was magst du denn genau an mir?

Andrea: Ich mag Ihre Art zu denken, ich mag Ihre Art zu denken sogar sehr – also dieses rätselhaft Labyrinthische in Ihren Texten, wo doch Ihre Sprache so schnörkellos und kristallklar erscheint. Kein anderer Autor des Expressionismus vermochte vermutlich das Lebensgefühl des modernen Menschen so auszudrücken wie Sie.

Kafka: Ja, die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam heftig daher. Um es mit Kurt Pinthus’ Worten zu sagen: Ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselte auf unsere Nerven nieder!!! Aua und trotzdem waren wir abgehärtet und stumpf!

Aufspaltung und Entfremdung in einer von Wissenschaft und Technik geprägten Welt, anonyme Machtapprate in einem unüberschaubar gewordenen Massenstaat, eine unübersichtliche Bürokratie, Zerrissenheit zwischen dem Streben nach privatem Glück und den Zwängen der Leistungsgesellschaft, geistige Entwurzelung, da die traditionellen Sinnvermittler wie Religionen und Ideologien immer mehr an Einfluss verloren haben, und schließlich die Wirren der beiden Weltkriege – all diese Erfahrungen warfen den Einzelnen mehr denn je auf sich selbst zurück, jagten ihn in eine Isolierung hinein, in eine seelische Vereinzelung, die von tiefer Existenzangst geprägt war. Zusammengeballt in 2 Jahrzehnte erlebten wir mehr als 2 Jahrtausende vor uns.

Andrea: Jap, Tempo kam ins Leben, fin-de-siecle-Stimmung breitete sich aus und die Sinnkrise – beschleunigt durch Nietzsche und Freud – radikalisiert sich in der Dekonstruktion und im Identitätsverlust des Ich. Der geistige Umsturz und die Veränderungen der Lebenswelt spiegeln sich auch in Ihren Erzählungen, Romanfragmenten und Parabeln wider. Ihre Werke treffen übrigens immer noch den Nerv der Zeit, und als der von Ihnen genannte Kurt Pinthus damals noch fragte „Was haben wir noch zu erwarten, zu erleben? Vermögen wir uns noch zu wundern?“, haben wir nun mit den Herausforderungen Terrorismus, Industrie 3.0, Nanotechnologie, Gentechnik und Klimawandel zu tun. Zurück zur Frage: Was halten Sie von der gegenwärtigen Welt?

Kafka: Der Wirklichkeitsverlust des Individuums ist dramatischer geworden, doch mir scheint, als ob die Menschen heutzutage die ihnen bloß vorgegaukelte Freiheit nicht registrieren.

Gut finde ich allerdings die gestiegene Toleranz in jeglicher Hinsicht. Als Jude, ewiger Junggeselle und Vegetarier hatte ich es zu meiner Zeit natürlich nicht leicht. Auch die liberale Erziehung und Beziehung gefallen mir. Meine Kinder- und Jugendjahre waren geprägt durch die Gefühlskälte meiner Mutter, die keinerlei Antennen für meine Bedürfnisse hatte, und vor allem durch die ablehnende Haltung meines Vaters, der in mir lieber einen mutigen und starken Sohn gehabt hätte. Ich kam mir neben ihm immer so erbärmlich winzig und unterlegen vor. Ich konnte tun, was ich wollte, ich erntete immer nur Hohn und Spott, statt Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Andrea: Ja, ich habe die Briefe an Ihren Vater gelesen. Sie gehen hart mit ihm ins Gericht. Das muss Sie sehr traumatisiert haben.

Kafka: Ja, ich habe diesen literarischen Brief aber nie abgeschickt. Ich habe über so vieles geschrieben, was mich bedrückt hat, beispielsweise auch über die Quälerei im Brotberuf, die mich beinahe zum Suizid brachte. Was haben Sie denn am liebsten von mir gelesen?

Andrea: Die Verwandlung!!! Ganz nüchtern schreiben Sie schon im 1. Satz über etwas Unerhörtes, der Verwandlung Gregors eben. Die Gestalt des ekelhaften Riesenkäfers wird zum drastischen Ausdruck der psychisch depravierten Existenz, die der arme Gregor Samsa geführt hat. Er ist sich in seiner familiären und beruflichen Lebenswelt selbst fremd geworden. Fremd sind ihm seine Tätigkeiten und vor allem die Konsequenzen, die daraus entstehen.

Ja, die Deutungsansätze sind so vielfältig wie die Fülle an Gedanken, die Sie, Herr Kafka, umhertragen. Die Metamorphose zum Käfer könnte also als Folge der unmenschlichen Arbeitsbedingungen verstanden werden; eingebunden in innerbetriebliche Mechanismen verliert der Mensch sein ihm eigenes Wesen und verwandelt sich zum Tier.

Gregor spiegelt aber auch Ihre eigene biografisch reale Misere in weiten Teilen wider: die fehlende Herzlichkeit des menschlichen Verkehrs, Ihre Unzufriedenheit mit Ihrer beruflichen Tätigkeit damals als Angestellter einer Unfall-Versicherungsanstalt, Ihre missglückten Liebesbeziehungen, vor allem aber die Dominanz Ihres Vaters haben vielerlei Entsprechung in Ihrem eigenen Leben.

Und Freud hätte wiederum vermutlich gesagt, dass Ihr Buch ganz Vaterproblem ist und würde Ihrem Protagonisten den Ödipus-Komplex diagnostizieren, der die Kinderstube ewig mit sich herumträgt und den befreienden Weg aus dieser Enge niemals finden kann. Psychoanalytisch kann man die Ungeziefergestalt aber auch als Rückfall in ein infantiles Entwicklungsstadium – einer sogenannten Regression – interpretieren. Der erwachsene, die Verantwortung für die Familie tragende Gregor sehnt sich in den Zustand des Kindes zurück. Erwachsene Verhaltensweisen mischen sich in auffälliger Weise mit kindlichen Abhängigkeitswünschen und Trennungsängsten. Die Ungezieferexistenz kann sich also als Ausdruck für eine neurotische Persönlichkeitsstörung, die zur Vereinsamung und zum seelischen Niedergang des Menschen führt, erweisen. Diese Rückentwicklung äußert sich auch in Gregors zunehmender Animalisierung und seinem triebgesteuerten Verhalten. Ich könnte jetzt noch mehr Lesarten vonseiten der Psychologie, Soziologie oder Theologie erläutern und kühne Spekulationen von mir geben.

Kafka: Ich höre dir gerne zu. Es ist befriedigend zu erleben, dass Menschen sich durch Literatur mit Werten und Normen auseinandersetzen, sich und ihre Umwelt reflektieren, nachdenken und dadurch neue geistige Welten erschließen und ihre Sozialkompetenz schulen. Du hast nicht unrecht mit dem, was du sagtest.

Andrea: Absolut! Sie verlangen anspruchsvolle Leser. Ich mag die Herausforderung, die Ihre Texte bieten. Der Prozess, die Parabel Gibs auf! sind auch einzigartig. Entgegen des Protagonisten der gerade genannten Parabel habe ich eine Uhr und sehe gerade, dass unsere Zeit vorbei ist. Was machen Sie jetzt noch?

Kafka: Wegen meiner Lungentuberkulose blieb mir der 2. Weltkrieg erspart. Meine 3 Schwestern wurden aber in Vernichtungslagern ermordet. Ich möchte dort noch Abschied von ihnen nehmen. Es quält mich zu wissen, dass meine mir wichtigste Person Ottilie auf so grausame Art und Weise sterben musste.

Und ich möchte noch nach Dessau. Wie du sicherlich weißt, habe ich neben Chemie, Germanistik und Jura auch Kunstgeschichte studiert, habe selbst Bilder gemalt. Ich bin im Alter von 41 Jahren, am 3. Juni 1924, mit dem Beginn des Baushausstils gestorben. Diese Kunst/ Architektur fand ich damals kühn und progressiv, habe aber nicht mehr viel davon mitgekriegt. Ich bin nun sehr interessiert, mehr davon zu erfahren.

Andrea: See?! Eine weitere Parallele – eine wirklich coole Ästhetik. Fahren Sie noch in die deutsche Stadt, in der Sie auch mal gewohnt haben – Berlin?

Kafka: Ja – und natürlich in meine Geburtsstadt Prag.

Andrea: Super! Dann besuchen Sie auf jeden Fall das Museum, in dem über Ihr Wirken und Schaffen informiert wird, inmitten der engen Gassen. Viel Spaß Herr Kafka – und Dankeschön, dass ich ein wenig Licht ins kafkaeska Dunkel bringen durfte!

Kafka: Gerne – und denk daran: Wer Augen hat zu lesen, der lese!

Andrea: Immer!